Mancher Gast linst verstohlen, wie einst beim Schummeln in der Schule, im Restaurant in eine jener handlichen Jahrgangstabellen aus Plastik, auf denen die Jahrgänge der wichtigsten Weinregionen signalhaft mit Sternchen, Gläsern, Punkten oder anderen Symbolen bewertet werden. Dann erst bestellt er den Wein. Lüpfen wir die Mysterien der Jahrgänge.
Einem notorischen Weinfreak werden die meteorologischen Daten jedes Jahrgangs vertraut sein. Aber wozu soll man sich den Kopf mit Daten vollstopfen, wenn es Kärtchen gibt, auf denen alles steht.
Wichtig dabei ist eigentlich nur, dass man die Jahrgangsbewertungen nicht pauschal als ultimative Wahrheit sieht, sondern sie wie einen Kompass zur Annäherung an den dem jeweiligen Anlass angemessenen Wein benutzt.
Die punktemäßige Erfassung von Jahrgangsqualitäten hat wie jedes starr angelegte Schema ihre eingebauten Unzulänglichkeiten.
Allgemeingültige Werte, wie sie Juristen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch schöpfen, kann es bei einem so lebendigen und sensiblen Produkt wie dem Wein nicht geben.
Hingegen ist die Gefahr groß, dass man Jahrgänge meidet, die als klein notiert sind, aber charmante Ausreißer beinhalten. Es gibt Jahrgänge, die einander ähneln, aber keiner gleicht spiegelbildlich einem anderen.
Jeder Jahrgang hat unverwechselbare, für ihn charakteristische Merkmale, wie sie keiner Tabelle entnommen werden können.
Jahrgangsbewertungen
Denn aus den Jahrgangstabellen erfährt man nur blanke Zahlen. Schon deshalb stecken in Jahrgangsbewertungen so viele Unwägbarkeiten.
Außerdem gibt es Jahrgänge, die zu Beginn schlicht verkannt werden und sich erst spät offenbaren. Zur Groteske wird die Punkterei der Jahrgänge, wenn diese bereits bewertet und punktemäßig in Schubladen gequetscht sind, noch ehe der Wein vergoren ist.
„Ich rege mich immer darüber auf, dass heutzutage ein Jahrgang stets gleich so definitiv – und oft noch vor der Lese – als gut oder schlecht bezeichnet wird“, klagte einmal Raoul Blondin, der legendäre Kellermeister von Mouton-Rothschild.
Auch Winzer in anderen Regionen müssen oft genug der Presse entnehmen, wie ihr Wein gefälligst zu werden hat. Nur: Die gute alte Mutter Natur hat schon so manchen Propheten, der den einen Jahrgang flink verteufelte und den anderen emporhob, hinterher, wenn die Weine ausgereift waren, verlegen aussehen lassen.
In jedem Jahrgang steckt ein Stück Spannung, dem Hamlet´schen Drama von Sein oder Nichtsein ähnlich – und das macht jedes Jahr aufs Neue das Forschen nach den guten Weinen so aufregend.
Allein die kleinklimatischen Verhältnisse können innerhalb einer überschaubaren Region so unterschiedlich sein, dass die Weine einander benachbarter Lagen im selben Jahr völlig konträr ausfallen.
Das Werden des Weins hängt von der Weinbergspflege genauso ab wie von Art und Alter der Rebstöcke, dem Wetter und der Arbeit im Keller.
In der Praxis bedeutet das, dass in einem mit generell 17 Punkten bewerteten Jahrgang der eine Winzer einen Wein für 19 Punkte macht, wohingegen des Nachbarn Gewächse nicht einmal 14 Punkte wert sind. Außerdem gibt es Jahrgänge, die schlicht verkannt werden.
Der Anlass ist entscheidend
Keine Ernte kann so erbärmlich sein, dass überhaupt nichts Gutes aus ihr herauskäme. Einige Jahrgänge werden überschätzt, andere hartnäckig unterbewertet.
Im Wein-Business ist es manchmal nicht anders als in der Gesellschaft: Schein rangiert oft vor Sein.
Vollen Herzens lässt sich eigentlich nur einer These zustimmen, und die ist ziemlich butterweich formuliert: „Nicht jeder Wein eines berühmten Jahrgangs ist gut, aber auch nicht jeder Wein aus einem mageren Jahr ist schlecht.“
Das entscheidende Kriterium bei der Wahl eines Weins ist nicht sein Renommee sondern der Anlass, zu dem er getrunken wird. Nicht die Reputation des Jahrgangs mit 19 oder 20 Punkten entscheidet, sondern der Stil des Weins.
Zur blauen Stunde, wenn der Tag langsam zum Abend wird, passt ein anderer Wein als am späten Sonntagmorgen zum Brunch. Zur Jause nach der Wanderung schmeckt ein leichter Landwein besser als ein schwerer Bursche aus einem statiösen Jahrgang.
Die kleinen Mysterien
Die Jahrgangstabellen verraten nichts über die kleinen Mysterien hinter dem Jahrgang. Der Höchstnote ist nur zu entnehmen, dass es sich um einen großen Jahrgang handelt.
Dabei entgeht den Weinnovizen, dass die Mehrzahl der Weine in der Normalflasche bereits auf dem Höhepunkt ist und etliche schon darüber. Das Gros muss schleunigst getrunken werden. Andererseits ist ein guter Teil der Jahrgangsbesten noch auf seinem Höhepunkt.
Dennoch sind Jahrgangstabellen hilfreich. Sie dienen als Richtschnur, nur sollte bei der Nutzung stets präsent sein, dass die Zahlen nur eine Orientierungshilfe sind und man bei den als durchschnittlich eingestuften Jahrgängen köstliche Gewächse entdecken kann.
Wer sich ausschließlich auf bestbeleumundete Jahrgänge kapriziert, hat in der Regel wohl immer einen guten Drink im Glas.
Jedoch abgesehen davon, dass ein Zuviel des Guten leicht zu Überdruss und Sattheit führt, entgeht ihm der einem Abenteuer gleichende Reiz, Unbekanntes zu entdecken, die entzückenden Kleinen im Schatten der Großen.
Text: August F. Winkler
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