Venedig geht unter. Das klingt nach einem uralten Warnruf, der diese einzigartige Stadt mitten in der Lagune seit Jahrhunderten begleitet. Nur ist sie Gott sei Dank nicht untergegangen. Bisher jedenfalls … Stöhnten die Venezianer früher unter Overtourism, sso sehnen sie jetzt Touristen wieder herbei …
Als ich mit 17 Jahren das erste Mal nach Venedig kam, habe ich mich sofort und ohne Wenn und Aber in diese Stadt verliebt.
Obwohl ich viele Plätze der Erde kennenlernen will, zog es mich nur nach Venedig in all den Jahren immer wieder regelmäßig zurück.
Oft musste ich mich wegen meiner Lieblingsstadt den verschiedensten Reaktionen meiner Mitmenschen stellen. Fragen, ob es denn nicht schrecklich sei, die vielen Menschen, das Hochwasser, der Gestank im Sommer. Oder das Schwärmen über die Kunstschätze, die einem begegnen, immer verknüpft mit der Skepsis, wie meine Freunde die hier leben, in einem Museum existieren können.
Der Alltag ist auch hier ein wirksames Mittel gegen den Mythos, er rückt das Venedig-Bild der positiven und negativen Vorurteile zurecht. Allerdings: Der Charme der Stadt besänftigt und korrumpiert zugleich, so schrieb der Venedig-Reisende William D. Howells bereits vor mehr als 100 Jahren.
Es fällt mir leicht, Ihnen Tipps für Ihren nächsten Venedigaufenthalt zu geben. Ein aktueller Bericht folgt in den nächsten Tagen.
Schönheit hat auch Schattenseiten
Es fällt aber schwer, über das Häßliche, das Problematische in dieser Stadt zu berichten. Denn das Zauberlicht, das Verfall und Dreck ästhetisch verwandelt, überstrahlt auch die Menschenströme und den allseitigen Ausverkauf.
Auf der einen Seite bewegen sich die Bewohner der Stadt wie selbstverständlich in einer kunstvoll gebauten Welt, andererseits zeigen sie oft wenig bis gar keine Reaktion auf das, was gedankenloser Fortschritt in Venedig anrichtet.
Aber wie lange kann eine Bevölkerung es verkraften, wenn die lebensnotwendigen Dienstleistungen verschwinden? Wenn man zum nächsten Lebensmittelladen länger als eine halbe Stunde unterwegs ist? Die Folge, viele Venezianer ziehen aufs Festland, und pendeln dann in die Lagune. Sie verlieren den Bezug zu ihrer Stadt – oder haben vielleicht auch nur aufgegeben.
Das ständig steigende touristische Interesse, die wachsende Anzahl von Zweit- und Ferienwohnungen ließen Immobilienpreise rasant steigen. Hinterher kann eher ein Hotel oder Millionär die Immobilie kaufen. Jede Sanierung verschlingt horrende Geldsummen, denn jeder Ziegel, jeder Wasserhahn muss umständlich und teuer per Boot hertransportiert werden. Und über allem thront das Verhängnis des allgegenwärtigen Denkmalschutzes.
Was Venedig von der Restwelt abschottet und atmosphärisch so einzigartig macht, schneidet die Stadt auch vom gesunden Überleben als Wirtschafts- und Sozialraum ab.
Lebensader: Tourismus
Deshalb hat man sich seit mehr als 50 Jahren mehr und mehr ausschließlich auf den boomenden Tourismus konzentriert.
Die Venezianer stöhnten berechtigterweise über die Besuchermassen und den Over-Tourismus. (Anm.: ich verhalte mich immer ganz ruhig, wenn meine Freunde darüber schimpfen, bin ich doch selbst auch Touristin)
Gibt es Probleme mit Hochwasser, muss natürlich ausschließlich die „Museumsstadt“ gerettet werden. Also verschlingen Projekte wie „Mose“ oder der Kreuzfahrthafen Milliarden. Ideen wie eine gläserne Mauer um den Markusdom, die elektronische Lenkung der Besucherströme, mögliches Eintrittsgeld für Touristen, kamen jetzt nur zum Stillstand – wegen Corona.
Die Corona-Pandemie hat das touristische Geschäftsmodell wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen lassen.
Jetzt, wo Touristen vielfach verschwunden sind, wirkt die Stadt an vielen Stellen wie leergefegt: In den teuren Boutiquen rund um San Marco langweilen sich einsame Verkäuferinnen. Gondoliere spielen Karten.
In vielen Hotels sind Betten frei. Das ist etwas völlig ungewohntes. Musste man früher doch voraus buchen. Auch in den Restaurants findet sich jetzt immer ein Platz. Selbst in Bars und Cafés sind nur wenige Gäste zu sehen. Und wenn jetzt der Herbst und Winter kommt bleiben dann vielleicht Hotels, Geschäfte und Restaurants manchmal für immer (?) geschlossen.
Die Venezianer kämpfen nun nicht gegen das Wasser, sie kämpfen eigentlich nun um ihr “Überleben”. Venedig muss ein neues Gleichgewicht finden, hoffen viele Venezianer.
Der Tourismus darf nicht verschwinden, aber er soll sich ändern, denn mehr als jeder zweite Job ist hier vom Tourismus abhängig.
Ein Teufelskreis, aber auch die große Herausforderung nach dieser so schwierigen Zeit, die zugleich die historische Chance mit sich bringt, vieles vielleicht doch zu verbessern. Die Venezianer brauchen dabei Unterstützung.
Text und Fotos: Annemarie Heinrichsdobler