Keine andere Stadt entführt den Besucher so schnell aus dem Alltag. Wer dem Stress entfliehen will, ist in Venedig richtig. Die Stadt entschleunigt, weil sie so ist, wie sie ist. Einer der Gründe ist sicherlich, dass Venedig die Stadt auf dem Wasser ist. Und Autos und Rushhour aussen vor lässt…
Das Mittel ist unfehlbar: Bereits zwei, drei Tage Venedig genügen mir, um mich wieder mit Fantasie und Energie vollzupumpen.
Ja, ich weiß, die Palazzi vermodern, die Türme stehen schief, die Gondeln tragen Trauer, aber das tun sie schon sehr lang. Kein Grund, deswegen in Melancholie zu ertrinken.
Schon die perfekten Überlebenskünste der Venezianer relativieren die eigenen Probleme. Wie wohltuend klug, gelassen und höflich sie miteinander umgehen, schon immer, bei Hochwasser und auch jetzt in der Corona-Zeit! Ohne zu rempeln lavieren sie in den engsten Gassen aneinander vorbei.
Ein freundliches „buongiorno“ und „come sta“ geht immer. Und sie freuen sich, wenn ich mit „benissimo“ antworte.
Eine Stadt auf dem Wasser
VENEZIA – schon seit Mailand steht dieses Ziel groß auf den Schildern über der Autobahn, ganz so, als ob Venedig eine der großen Metropolen Italiens wäre.
Laut Wikipedia hatte die Stadt als Hauptstadt der Republik Venedig 1797 über 180.000 Einwohner und war damals eine der größten Städte Europas. Heute zählt die Stadt gerade mal rund 30.000 Einwohner. Dafür stellt die Siedlung in der Lagune jetzt einen der größten europäischen Touristenmagneten dar.
Doch davon sieht man fünf Kilometer vor der Ankunft immer noch nichts: Der Industrie-Moloch Marghera versperrt als einer der größten Industriekomplexe des Mittelmeers den Blick auf die Lagune.
Selbst am Ende der langen „Brücke der Freiheit”, wo „mein“ Venedig endlich anfangen müsste, begrüßen den Besucher zunächst Parkhäuser aus Beton.
Aber 100 Meter hinter dem Piazzale Roma fängt das „größte Freilichtmuseum der Welt” dann endlich an.
Eine kurze Treppe führt direkt zu den kleinen Gassen und Kanälen. Ab hier gibt es nur noch zwei Transportmittel: Die eigenen Beine oder Boote.
Ohne Frage, es gibt wohl nichts Typischeres für Venedig als die “Gondola”. Hinter diesem melodischen Wort versteckt sich ein schwarz lackierter Kahn mit einer standardisierten Länge von elf Metern und dem typischen sechszackigen Bugkamm, der die verschiedenen Stadtviertel symbolisiert.
Auf den gepolsterten Sesseln nehmen meist vier bis sechs Fahrgäste Platz, Der Gondoliere bugsiert in überlieferter Form mit bewundernswertem Geschick das Gefährt mithilfe nur eines einzigen langen Paddels durch die engen Kanäle.
Ein traditionsreiches Handwerk, das zu einem umkämpftem Business geworden ist. Kein Wunder, bei dem horrenden Preis, den die Besucher für die romantische Ruderfahrt meist klaglos zahlen. Ein Einheimischer käme allerdings kaum auf die Idee, eine solche Gondel als Transportmittel zu benutzen.
“Linienbus” und mehr auf dem Wasser
Die Venezianer fahren mit dem Vaporetto. So heißt dle aquatische Version des Linienbusses.
Unablässig tuckern diese Passagierkähne den Canal Grande hin und her. An den vielen Stationen wechseln quirlige Menschenmassen vom Boot und zurück – fast wie in einer Metro.
Für den Touristen mit einer Tageskarte sind die Vaporetto eine günstige Möglichkeit, gemächlich durch die Marmorschlucht des Canal Grande zu „flanieren“ und die prunkvollen Paläste zu bewundern, von der diese Hauptschlagader Venedigs gesäumt ist.
Unterwegs kreuzt der Vaporetto all jene Gefährte, mit denen Venezianer die Transportprobleme ihrer Stadt auf dem Wasser gelöst haben. Ob Blumenhändler oder Getränkegroßhandel, hier hat jeder seinen speziellen Lieferkahn.
Ganz zu schweigen von den edlen Taxis aus Mahagoniholz und den privaten Motorbooten, die durch die Häuserzeilen rauschen. In Venedig dient der flotte Wasserflitzer als Statussymbol.
Zwischendrin überqueren die “Traghetto” paddelnd den großen Kanal. Diese auch “Gondel der Armen” genannten Ruderkähne sind weit weniger elegant als ihre touristischen Gegenstücke, und werden auch von den Venezianern benutzt.
Wer das Gedränge im Stehen auf dem Kahn in Kauf nimmt, kommt so zu einem äußerst preisgünstigen und ebenso kurzen Gondelvergnügen.
Zu Fuß über Brücken und Treppen
Doch eine der wichtigsten Fortbewegungsarten bleibt für den Touristen der Fußmarsch. Das Märchenland aus tausendundeinem Kanal wird von dreimal soviel Gassen durchzogen.
Venedig lädt den Besucher geradezu ein, sich in seinen engen Häuserschluchten zu verlieren.
Wer die Stadt vom Piazzale Roma über den Rialto bis hin zum Markusplatz durchquert, tut gut daran, die regelmäßig an den Hauswänden angeschlagenen Wegweiser häufiger mal geflissentlich zu übersehen.
Einfach mal das entgegengesetzte Gässchen nehmen. Und wie durch ein Wunder versiegt dann auf einmal das Raunen des Touristenstroms und macht schnell einer ungeahnten Stille Platz.
Eine leere Gasse, ein kleiner Hinterhof, ein rostiges Tor, wieder eine dunkle Gasse, die direkt am Ufer eines kleinen Kanals endet.
Abseits der knipsenden Horden ist die Lagunenstadt auf einmal wirklich authentisch.
Die Rückkehr ins „Venedigland” ist einfach. Man kann sich nicht verlaufen, irgendwann taucht auf einem der „Campi” genannten Miniplätze zwischen den Gassen schon wieder der nächste Wegweiser Richtung Rialto oder San Marco auf. hei
Ab jetzt gibt es immer wieder mal einen Bericht oder Tipp aus meiner Lieblingsstadt. Folgen Sie mir einfach …
Text: Annemarie Heinrichsdobler
Fotos: © Annemarie Heinrichsdobler, © Edmund Heinrichsdobler