Hamm in Westfalen kennt in Indien kein Mensch. Kanchipuram im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu kennt niemand in Deutschland. Und doch verbindet die beiden Städte eine ungewöhnliche Geschichte. Sie hat mit dem Hindu-Priester Arumugam Paskaran und dem größten Hindu-Tempel Kontinentaleuropas zu tun. Er ist das Zentrum des Hinduismus im Exil: der Sri-Kamadchi-Ampal-Tempel. “Es war Gottes Wille”, sagt der Priester.
Ein Besuch im Industriegebiet von Hamm-Uentrop
Im roten Sari und mit Girlanden geschmückt blickt Tempelgöttin Sri Kamadchi Ampal nach Osten zur aufgehenden Sonne.
Auf dem Boden hockend beten Frauen in kunterbunten Saris, ihre Kinder, Männer – und Sunil. Er ist 27 Jahre alt, Hindu, Tamile mit deutschem Pass und arbeitet in der IT-Branche.
Zweimal pro Woche geht er in den Tempel. Er faltet seine Hände vor dem Gesicht, mit den Fingerspitzen nach oben, und erweist Kamadchi Ampal und anderen Göttern Respekt, Dank und Hingabe. Was er sich wünscht, wissen wir nicht. Aber alle Hindus glauben, dass die Tempelgöttin Sri Kamadchi Ampal alle Wünsche von den Augen ablesen kann …
Bergbau noch bis 2010, Stahl, Chemie: Hamm ist keine aufregende Stadt. 180.000 Einwohner. Die hinduistische Gemeinde im Stadtviertel Uentrop liegt direkt an der A 2 zwischen Dortmund und Bielefeld. Und genau dort kann man ein authentisches Stück Indien erleben.
Im Industriegebiet Uentrop steht der größte Hindu-Tempel Kontinentaleuropas und nach dem im nordindischen Nagara-Stil errichteten Neasden-Tempel in London der zweitgrößte hinduistische Tempel in ganz Europa: Grundfläche 27 mal 27 Meter, mit einem 17 Meter hohen Gopuram, dem Eingangsturm.
Wie der nach Hamm kam? “Es war Gottes Wille”, sagt Hindu-Priester Arumugam Paskaran. Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka führte ihn eine Odyssee über Moskau und Berlin Richtung Paris.
“Während der Zugfahrt hatte ich plötzlich großen Hunger und ich stieg einfach aus”, erzählt der Mann mit dem langen weißen Bart. “So kam ich nach Hamm. Und ich blieb.”
Noch im gleichen Jahr, 1989, baute sich Paskaran einen Schrein in seine Wohnung. Drei Jahre später folgte ein kleiner Tempel, 2002 der jetzige große.
Architekt war der Deutsche Heinz-Rainer Eichhorst aus Hamm, der keinerlei Erfahrung im Bau von hinduistischen Tempeln hatte.
Doch während eines mehrwöchigen Aufenthaltes in Südindien ließ sich Eichhorst über die religiösen Vorschriften für Tempelbauten unterrichten.
Für den Bau, insbesondere für die vielen Skulpturen und Verzierungen, wurden aber auch mehrere Tempelbauer aus Indien beschäftigt. Bei Führungen über das Tempelgelände berichtet Architekt Eichhorst selbst über die Entstehungsgeschichte und erklärt den Tempel, etwa dass er streng nach rituellen Vorgaben konzipiert wurde und die Göttin vom Zentralschrein in Richtung Osten zur aufgehenden Sonne blickt.
Der größte Hindu-Tempel Kontinentaleuropas
Der Kanchi-Kamadchi-Tempel im südindischen Kanchipuram war die Vorlage. Die Stadt Hamm stellte das Grundstück zur Verfügung und die Baukosten in Höhe von gut 1,5 Mio. Euro sammelte Paskaran durch Spenden und Darlehen ein.
20.000 Hindus aus ganz Europa feierten 13 Stunden lang die Einweihung des Sri-Kamadchi-Ampal-Tempels: “Die hinduistische Bevölkerung hatte nun einen Zufluchtsort für ihre religiösen Zeremonien”, sagt der 58-jährige Priester, den sie als ihren Guru, ihren Lehrer, achten.
“Die deutsche Hinduistische Gemeinde vereinigt heute alle in Deutschland lebenden Hindus, unabhängig von ihrer jeweiligen hinduistischen Religion oder der praktizierten hinduistischen Richtung”, erklärt Paskaran.
Immerhin rund 60.000 Hindus leben in Deutschland, knapp die Hälfte in Nordrhein-Westfalen, “alle gut integriert”, glaubt der Priester: “Viele haben inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit, fast alle sind berufstätig, in allen Schichten, vom Arbeiter bis zum Akademiker. Inzwischen wächst ja bereits die zweite Generation heran.”
Vanakkam
Für viele der westlichen Betrachter wirkt der Hinduismus mit seinen Skulpturen, Mythologien und unzähligen Hindu-Gottheiten wie eine Mischung aus Religion, Kult und Fantasy. Allein im Tempel von Hamm findet man rund 200 Gottheiten.
Im Hinduismus gibt es keinen einheitlichen Religionsstifter, kein gemeinsames Glaubensbekenntnis, keine zentrale religiöse Institution.
Aber es gibt Brahman, den Priester Paskaran so beschreibt: “Er ist der höchste kosmische Geist, die unbeschreibbare, unerschöpfliche, allwissende, allmächtige, nichtkörperliche, allgegenwärtige, ursprüngliche, erste, ewige und absolute Kraft. Brahman ist ohne einen Anfang, ohne ein Ende, in allen Dingen enthalten und die Ursache, die Quelle und das Material aller bekannten Schöpfung, rational unfassbar und doch im gesamten Universum immanent.”
“Vanakkam” heißt übersetzt aus Tamil “Gruß” und so heißt auch Priester Paskaran die Besucher willkommen.
“Der Tempel ist für alle Menschen geöffnet. Jeder kann seine Sorgen spirituell mit den Göttern besprechen”, sagt Paskaran.
Nur sollte man im Tempel respektvoll gekleidet sein, keine Leder- oder andere von Tieren stammende Kleidung tragen, nicht Essen und Trinken, sich ruhig verhalten, barfuß oder auf Socken gehen.
Der Duft von Räucherstäbchen liegt in der Luft: Eine der drei täglichen Zeremonien ist im Gange, sehr anmutig trotz der ohrenbetäubenden Trommeln.
Für Waschungen geht’s 300 Meter weiter unter eine Brücke am Datteln-Hamm-Kanal – mit wenig einladendem Wasser. “Der Kanal ist unser Ganges-Ersatz. Wir glauben, dass Flüsse und Seen von Gott kommen”, sagt der Priester und ergänzt: “Mich stört es nicht, dass unser Tempel mitten in einem Industriegebiet liegt. Unsere Zeremonien sind oft laut, mit viel Musik und in einem Industriegebiet fühlt sich dadurch niemand beeinträchtigt.”
Beim jährlichen, bis zu zwei Wochen dauerndem Tempelfest kommen etwa 15.000 Menschen: Es ist das größte Hindu-Fest in Deutschland.
Bei ekstatischen Tänzen und Kasteiungen stechen sich manche gläubigen Männer Spieße, Haken und Nägel in Mund, Wangen oder Rücken. Rituale, die Paskaran duldet, aber nicht fördert oder gar fordert.
“Die Kasteiungen sind Sache der Gläubigen. Man opfert sich der Göttin und bittet durch Kasteiung um Hilfe für die Lösung eines Problems.”
Blut fließt nicht, weil die Gläubigen unter dem Schutz der Göttin stehen und von einem Zeremonien-Meister begleitet werden, “der die Techniken für die Einstiche kennt und die Gläubigen mental auf ihre Strapaze einstimmt”, so der Priester. Die in der tamilischen Tradition oft stattfindenden Tieropfer werden nicht geduldet.
Trotzdem wird der Tempel von Hamm als das Zentrum des Hinduismus im Exil angesehen. Und Göttin Sri Kamadchi Ampal hält schützend ihre Hand über Hamm, Tempel, Kanal – und Sunil.
Der Tempel in Hamm ist der einzige Tempel der Göttin Kamadchi außerhalb Südasiens. Sunil weiß das und hofft, dass sie ihm seinen Wunsch von den Augen abgelesen hat …
Infos für den Besuch
Tempel-Öffnungszeiten: täglich 8.00 – 13.00 und 17.00 – 19.00, Gottesdienste täglich 8.00, 12.00, 18.00 Uhr.
Tempel-Veranstaltungen: Das diesjährige Tempelfest läuft vom 05.06.23 bis zum 21.06.23. Die große Prozession zum Kanal findet am 18.06.23 statt. Weitere Festtage und Anfragen zu Tempelführungen unter www.hinduistische-gemeinde-deutschland.de.
Hotels: Nächstgelegenes Hotel zum Tempel ist der schlichte “Lippborger Hof” im nahen Lippetal mit Doppelzimmern ab 70 €. Deutlich idyllischer und auch nur 30 Minuten vom Tempel entfernt, nächtigt man im 3-Sterne-Hotel “Lohmann” in Drensteinfurt, mit Biergarten, Restaurant und Doppelzimmern ab 95 €.
Restaurants: Kartoffelaufläufe, Rösti und Folienkartoffeln stehen in der “Knolle” (12 bis 15 €) im Mittelpunkt. In der einzigen Gasthausbrauerei in Hamm kommt Deftiges vom Freilandschwein (10 bis 15 €) und hauseigenes Bier auf den Tisch.
Weitere Berichte über Indien finden Sie in unserem Reisearchiv.
Text: Jochen Müssig
Fotos: © Hinduistische Gemeine Deutschland / © Jochen Müssig