Kabinettausstellung im Museum für Kommunikation Berlin nimmt Comic-Journalismus weltweit in den Blick
Zeich(n)en der Zeit heißt die Berliner Ausstellung über Comic-Journalismus. Wie sieht es aus, wenn Kunst und Information zum Zeitgeschehen aufeinandertreffen? Was unterscheidet Comic-Journalismus vom klassischen Journalismus?
Comic-Journalismus weltweit
In Kooperation des Deutschen Comicvereins in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Comic-Salon Erlangen, versammelt vom 23. Mai bis zum 25. August 2019 Werke internationaler Künstlerinnen und Künstler, darunter Joe Sacco, Olivier Kugler (Bild oben), Bo Soremsky, Victoria Lomasko und Ulli Lust. Außerdem zu sehen: Wegweisende Reportage-Projekte französischer und Schweizer Magazine und englischsprachiger Online-Plattformen. Die rund 40 Arbeiten zeigen, wie vielfältig die Ausdrucksformen und Arbeitsweisen im Comicjournalismus sind.
Der Journalismus kennt viele Sparten und noch mehr Gattungen. Dass sich neben Print, Radio, TV und Online auch der Comic zur Vermittlung journalistischer Inhalte eignet, begann sich aber – trotz der langen Geschichte von Presseillustrationen und Karikaturen – erst ab den 1990er-Jahren herumzusprechen.
Mit Joe Sacco kamen die ersten Comicreportagen aus den USA. Bald verlegten sich auch Zeichner/innen und Journalist/innen aus anderen Weltregionen auf dieses Format. Mittlerweile bordet die Szene nur so über vor gelungenen Beispielen gezeichneter Reportagen, Berichte oder Kolumnen. Thematisch ist von Menschenrechtsthemen über Außen- und Wirtschaftspolitik bis Kultur und Gesellschaft alles dabei.
Während Comicjournalismus zu Anfangszeiten häufig in Buchform erschien, findet er heutzutage den Weg in experimentierfreudige Redaktionen konventioneller Medien. Besonders das Internet hat sich als perfekter Partner erwiesen. Auch wenn selten Einigkeit darüber besteht, wie genau Comicjournalismus zu definieren sei, ist diese inhaltliche und gestalterische Freiheit der Disziplin eher zuträglich. Die unbändige Freude an der neuen Form ist allen comicjournalistischen Beiträgen in dieser Ausstellung gemeinsam.
Zum Titelbild Calais © Olivier Kugler
Die gezeichneten Reportagen von Olivier Kugler (*1970) erschienen bereits im „Guardian“, in der „Süddeutschen Zeitung“, in der „New York Times“ und dem Magazin „The New Yorker“. Ob Fischer in Ghana oder LKW-Fahrer im Iran – für seine Reportagen reist er an die verschiedensten Orte und begleitet dort Menschen in ihrem alltäglichen Leben. Kuglers Zeichnungen werden durch Texte ergänzt, die auf den vor Ort geführten Gesprächen basieren. Für Ärzte ohne Grenzen reiste Kugler vier Jahre lang durch den Irak,
Griechenland, Frankreich und Deutschland, um Syrer/innen in Flüchtlingscamps zu interviewen. 2017 erschien der Reportagenband „Dem Krieg entronnen“, der bei den „European Design Awards“ ausgezeichnet wurde.
„Im Schatten des Krieges“ (2016) von Sarah Glidden
Die US-amerikanische Comiczeichnerin Sarah
Glidden (*1980) ist vor allem für ihren ersten,
autobiografischen Comic „Israel verstehen in
60 Tagen oder weniger“ bekannt. In ihrem
zweiten Buch „Im Schatten des Krieges“ war
sie wieder einmal im Nahen Osten unterwegs:
2010 begleitete sie zwei befreundete Journalisten
auf einer Reise durch die Türkei, Syrien
und den Irak. Sie wollten den Amerikaner/innen
die Auswirkungen des Irakkriegs auf die einheimische Bevölkerung bewusst machen. Glidden nahm auf ihrer Reise Gespräche und Interviews auf, fertigte Skizzen an und befragte ihre Mitreisenden.
Zurück in den USA transkribierte sie ihre Aufnahmen und setzte die wichtigsten
Elemente in einen Comic um. Die Offenlegung des Rechercheprozesses ist ihr wichtig, da sie auch Themen wie journalistische Objektivität reflektiert.
© Sarah Glidden
„Der Riss“ (2016) von Carlos Spottorno & Guillermo Abril
2013 gab das spanische Magazin „El País Semanal“ eine Reportage über die Grenzen
Europas in Auftrag. Auslöser war das Bootsunglück vor Lampedusa, bei dem mehr als 300
Geflüchtete zu Tode kamen. Für ihre Recherche fuhren der Fotograf Carlos Spottorno und der Journalist Guillermo Abril nach Melilla, eine spanische Enklave im Norden Marokkos. Dort entstand die erste Reportage einer langen Serie, für die sie an unterschiedliche EU-Außengrenzen reisten. Spottorno und Abril trafen in den verschiedenen Ländern Geflüchtete, NATO-Soldaten und Kommunalpolitiker, deren Schicksal eng mit diesen Grenzen verknüpft ist. Für ihr Buch wählten die beiden eine freie Comicform,
deren Bildgrundlagen Spottornos Fotos sind. „Der Riss“ basiert auf insgesamt 15 Notizbüchern und 25.000 Fotos, die sie über drei Jahre gesammelt haben.
© Carlos Spottorno & Guillermo Abril: avant-verlag
„Die Unsichtbaren und die Zornigen“
(2018) Reproduktion, deutsche Ausgabe (Victoria Lomasko)
Victoria Lomasko (*1978) lebt und arbeitet in Moskau. Sie interessiert sich besonders für „Gesellschaftscomics“: Mit ihren Reportagen will sie auf Missstände des Justizsystems und innenpolitische Konflikte in Russland aufmerksam machen. In ihrem Buch „Die Unsichtbaren und die Zornigen“ zeichnet Lomasko ein Porträt des gegenwärtigen Russlands: Insass/innen von Jugendstraflagern, orthodoxe Aktivisten/innen, Sexarbeiter/innen, Ultranationalist/innen und Rentner/innen kommen in den grafischen Reportagen zu Wort. Als „Unsichtbare“ bezeichnet Lomasko jene Menschen, die von Staat, Medien und Gesellschaft ignoriert werden. „Zornige“ sind für sie die Demonstrant/innen, die 2012 eine neue Bürgerrechtsbewegung initiierten.
© Victoria Lomasko: diaphanes
„Reported Missing“ (2018)
von Eleri Harris
Eleri Harris (*1984) ist eine australische Comic-
Zeichnerin und Illustratorin. Ihre Beiträge erschienen u.a. in den Zeitungen „The Age“ und „The Sydney Morning Herald“ sowie im Programm der „Australian Broadcasting Corporation (ABC)“.
Seit 2016 arbeitet sie als Redakteurin für „The Nib“. Harris’ siebenteilige Comicreportage
„Reported Missing“ ist der erste Beitrag, der auf „The Nib“ in Serie erschien. 2009 geht vor der australischen Insel Tasmanien eine Yacht unter, ihr Besitzer bleibt auch Wochen später noch verschwunden. Seine Ehefrau Susan Neill-Fraser wird schließlich des Mordes angeklagt. Harris konstruiert in ihrer Reportage den Ablauf der polizeilichen Ermittlungen und der Gerichtsverhandlung anhand der Interviewaussagen von Neill-Frasers Tochter Sarah. „Reported Missing“ war 2018 in diesem Jahr für den „Cartoonist Studio Prize“ von Slate Book Review und dem „Center for Cartoon Studies“ nominiert.
© Eleri Harris: The Nib
„Europe’s Waiting Room“ (2017) von Aimée de Jongh
Aimée de Jongh (*1986) ist eine niederländische
Comiczeichnerin und Illustratorin. Ihren ersten Comic, Aimée TV, veröffentlichte sie im Alter von 17 Jahren. Seither sind von ihr Kinderbücher, Graphic Novels und Animationsfilme erschienen. Ihr international erfolgreichster Comic, „De terugkeer van de wespendief“ (2014), wurde 2017 von dem niederländischen Regisseur Stanley Kolk verfilmt. De Jonghs Comicreportage „Europe’s Waiting Room“ ist 2017 in der niederländischen Zeitung „NRC“ und auf „Drawing the Times“ erschienen. Für ihre Reportage besuchte sie das Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos. Während Fotograf/innen der Zutritt verwehrt wurde, konnte de Jongh als Zeichnerin fast alle Orte besichtigen und die meisten Personen – mit deren Erlaubnis – skizzieren.
Kontakt zu den Bewohner/innen erhielt sie über eine Mitarbeiterin einer niederländischen NGO. De Jongh vermittelt durch ihre Comicreportage, wie sich ein Leben in „Europas Wartesaal“, wie Griechenland in europäischen Medien häufig genannt wird, anfühlt.
© Aimee de Jongh: Drawing the Times
Wo finde ich die Ausstellung Comic-Journalismus?
Museum für Kommunikation Berlin
Leipziger Straße 16
10117 Berlin
Telefon 030 202 94 0
www.mfk-berlin.de
Verkehrsverbindungen
U2 Mohrenstraße, U6 Stadtmitte, Bus M48, 200, 265
Öffnungszeiten
Dienstag 9 – 20 Uhr
Mittwoch bis Freitag 9 – 17 Uhr
Sa, So, Feiertag 10 – 18 Uhr
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