Auf dem Franziskusweg von Florenz nach Rom: Unser Autor Thomas Bauer schildert, wie es ist, als Pilger in der italienischen Hauptstadt anzukommen. Der Franziskusweg verbindet auf gut 500 km mittelalterlich anmutende Dörfer und Touristenmagnete wie Florenz, Assisi und Rom mit der wilden Schönheit Mittelitaliens.
Entschlossen ziehe ich die schwere Eingangstür zur Abtei von Farfa hinter mir zu. Eine Nacht habe ich hier verbracht und Kraft gesammelt für das, was vor mir liegt. Nichts regt sich um mich herum. Natürlich nicht, immerhin ist es halb sechs Uhr morgens: Wer, außer mir, will schon zu Fuß ins 60 km entfernte Rom gehen?
Ich habe mir aber in den Kopf gesetzt, die Hauptstadt heute, am 4. Oktober, dem Franziskustag, zu erreichen. Und so will ich folglich eine überschaubare Heldentat vollbringen oder eine grandiose Dummheit begehen. Dabei tippe ich eher auf das zweite.
Der Wahrheit zuliebe zieht mich noch etwas ganz Anderes nach Rom: Die Aussicht auf eine der 150 Eissorten der Gelateria della Palma beim Pantheon lässt meine Beine beinahe wie von selbst vorwärtslaufen.
Die Wirbelsäule Italiens
In Florenz war ich aufgebrochen und hatte in meinem einfachen Pilgeroutfit einen wunderbaren Kontrast zu der wohlhabenden Renaissancestadt geboten.
Bald darauf war es bergauf und bergab gegangen. Immer wieder hatte mich der Franziskusweg zu entlegenen Dörfern geführt, die auf Hügelspitzen balancieren, dass man beinahe Angst bekommt, sie könnten von dort herunterfallen.
Der Apennin ist in jeder Hinsicht die Mitte Italiens. Er ist die 1.500 km lange Wirbelsäule des Landes.
Uralte Pilgerwege
Die anstrengenden Berghänge liegen hinter mir. Ich sauge die Luft ein. Sie schmeckt fruchtbarer als bisher, doch, ganz sicher, eine Prise Mittelmeer schwingt in ihr mit.
Ob daher der Ausdruck „Aroma“ kommt – a Roma, „nach Rom“ also, dem Geschmack der Zivilisation entgegen? Es muss wohl so sein.
Wie ein in der Bewegung erstarrter Ozean liegt das Land vor mir. Geschwungene Hügel wechseln sich mit gewellten Talböden ab, als hätte ein Kalligraf diese Landschaft mit gekonntem Pinselschwung entworfen. Weit draußen fahren Bauern in großen Maschinen die Ernte des Jahres ein.
Ich lasse Fara in Sabina links liegen und gehe an Obstgärten entlang und durch pittoreske Wäldchen hindurch zum Städten Canetto. In der dortigen Bar bläue ich mir ein, bloß keinen Espresso zu ordern. Das habe ich unterwegs gelernt.
Beim italienischen Caffè handelt es sich nämlich bereits um Espresso, und an der Verwendung dieses vermeintlich so typisch italienischen Wortes erkennt man zielgenau den Ausländer, der vermutlich auch „mille grazie“ sagt statt „grazie mille“.
Auch so verhalte ich mich schon „unitalienisch“ genug. Im Kernland des Pilgerns ist das Wandern unpopulär geworden.
Ich mache alles andere als bella figura: Meine Hosenbeine sind bis zu den Knien mit Matsch besprenkelt, Erdklumpen und tote Fliegen kleben an ihnen. Auf meinem T-Shirt hat der Schweiß weißgraue Schlieren gezogen.
In der Bar von Canetto habe ich ungewohnt viel Platz. „Voglio il tuo profumo“, schmachtet Gianna Nannini mit wunderbar rauchiger Stimme in einem ihrer größten Hits. „Ich will deinen Geruch“. Zu mir würde sie derzeit wohl eher sagen „No grazie, fate la doccia, dusch dich erstmal!“
Gleich nach der Bar treffe ich auf einen blaugelben Wegweiser. Via Francigena steht darauf. Von hier an folgen beide Fernwanderwege der uralten Nomentana, einer Straße, die bereits die Römer angelegt haben. Sie bringt Pilger seit anderthalb Jahrtausenden verlässlich nach Rom.
Die Sonne presst Pflanzen und deutsche Pilger aus wie reife Zitronen. Andauernd trinke ich Wasser, achteinhalb Liter werden es bis heute Abend werden. In der Sonne dürften es 40° Celsius sein. Die Hitze weckt meine Lebensgeister.
Gut zwanzig Kilometer liegen hinter mir, als ich in Montelibretti das zweite Croissant und den dritten Espresso des heutigen Tages zu mir nehme.
Die Landschaft legt sich nochmals mächtig ins Zeug. Sie wartet mit Weinreben und Olivenhainen auf, reiht getreidegelb leuchtende Hügel aneinander und bietet mir fruchtbare Täler zur Durchquerung an.
Auf Tre Ponte, das genau das ist, was sein Name beschreibt – drei Brücken, die über ein Flüsschen führen – folgt ein geräumiges Gehöft, hinter dessen Westseite ich Monterotondo erkenne, die letzte Station vor Rom.
Dort angekommen, bestelle ich bei einer dauerkichernden Kellnerin ein drei Brötchen mit Hühnchen, Thunfisch, schließlich wieder Hühnchen, gefolgt von zwei Schokoriegeln und einer Tüte Chips, die ich mit einem Eistee und zweieinhalb Litern Wasser hinunterspüle. Die Kellnerin wird Pilgern immer gewogener.
Auf den kommenden 12 km überrascht mich die Nomentana mit einem Geschenk. Der Weg schlängelt sich durch das Naturreservat Marcigliana, das in schönem Kontrast zur direkt dahinterliegenden Metropole saftige Wiesen und Blumenarrangements bereithält. Meine Schritte werden weicher und mein Gang lockerer.
Alle Wege führen nach Rom –
manchmal dauert es nur etwas länger
Am Ende des Naturpardieses führt der Weg schnurgerade auf die italienische Hauptstadt zu. Dazu wurde Rom übrigens erst 1871 im Zuge des Risorgimento ernannt. Zuvor fiel diese Aufgabe Turin und ab 1865 Florenz zu.
Bis zur Stadtgrenze muss ich in einem Rutsch durchlaufen. Nach den hinter mir liegenden 50 km würde ich ansonsten wohl nicht mehr aufstehen. Anderthalb Stunden folge ich dem wie mit dem Lineal gezogenen Weg. Links und rechts erstrecken sich weiterhin Wiesen und Wälder, und ich kann kaum glauben, dass ich mich in unmittelbarer Nähe einer Millionenmetropole befinde.
Die Sonne wird nun doch demütig und verbeugt sich vor der Erde. Gegen 18 Uhr erreiche ich La Cinquina, einen Vorort Roms, eingespannt zwischen dem Naturareal und der Hauptstadt. Hier entsorge ich allen Proviant, auch das restliche Wasser, zwei paar durchgescheuerte Socken und meine vorletzte Unterhose in einem Papierkorb. Dann schultere ich ein letztes Mal den Rucksack und nehme die restliche Wegstrecke in Angriff.
Im einsetzenden Mondschein unterquere ich den Circonvallazione, Roms Ringstraße, und folge dann der Via della Bufalotta. Mehrere Kilometer weiche ich ihr nicht von der Seite. Langsam verstehe ich, warum man von der „ewigen Stadt“ spricht. Schon im ersten Jahrhundert vor Christus hat der Dichter Tibull Rom so genannt.
Bereits damals war es als Zentrum des Römischen Reiches eine Millionenmetropole. Es gab ein Frisch- und Abwassersystem, ein ausgebautes Straßennetz und die Vigiles, eine Art Feuerwehr mit Polizeibefugnissen zum Schutz der Bürger. In seiner „Aeneis“ lässt Vergil den Gott Jupiter prophezeien, dass der Stadt Rom keine räumlichen oder zeitlichen Grenzen gesetzt seien.Vor allem den Punkt mit den nicht vorhandenen räumlichen Grenzen kann ich mit jedem Schritt besser nachvollziehen. Mit jeder Seitenstraße, die ich überquere, füllt sich die Bufalotta mit mehr Autos als zuvor. Bald bin ich schneller unterwegs als sie. Gegen 20 Uhr bin ich endgültig umgeben von drängelnden Mopeds, qualmenden Stadtbussen und telefonierenden Fußgängern.
Ich überquere die vierspurige Schnellstraße Viale Jonio und erreiche im Gefolge der aufgebrezelten Stadtjugend das Viertel Monte Sacro. Auf einem Hügel dieser Art brachte Romulus der Sage nach am 21. April 753 vor Christus seinen Bruder Remus um, als dieser über die von Romulus erbaute Stadtmauer gesprungen war.
Ich hingegen bin mir jetzt ganz sicher, dass ich noch heute ins Stadtzentrum gelangen werde – und wenn es bis Mitternacht dauern sollte. Was würde Franziskus sonst dazu sagen? „Ein Mensch mit gütigem, hoffendem Herzen fliegt, läuft und freut sich; er ist frei.“ Nein, ich darf Francesco nicht enttäuschen.
Längst merke ich gar nichts mehr: keine Anstrengung und keinen Schmerz, keine Hitze und keine Kälte. Auch den Lärm der Autos habe ich ausgeblendet.
Nur: Wo genau ist die Stadtmitte? Die Auswahl an Straßen, Abzweigungen und Irrwegen nimmt zu, die Variation der Auskünfte ebenfalls.
Nach einigem Hin und Her biege ich endlich wieder auf die Nomentana ein. Von hier an geht es nur noch geradeaus bis zur Porta Pia, dem berühmten Tor zur Innenstadt.
In Rom anzukommen nötigt mir Respekt ab. Die Stadt wächst mit jedem Schritt.
Mittlerweile falle ich als Pilger auf. Fotoapparate werden gezückt. Vermutlich bin ich in ihren Augen ein religiöser Fanatiker oder ein verschwitzter Möchtegernguru. Nein, beteuere ich stattdessen, ich sei nur unterwegs, um Italien und seine Menschen kennenzulernen und am Ende vielleicht ein bisschen über mich hinauszuwachsen – wie Franz von Assisi eben, auf dessen Spuren ich unterwegs sei. „Auf den Spuren von wem?“
Das große Finale
Um 21 Uhr, 15 Stunden nach meinem Aufbruch von Farfa, stehe ich vor der Porta Pia. Dann schlüpfe ich endgültig hinein in die italienische Hauptstadt und werde zu einem Verrückten inmitten anderer Verrückter.
Ich verschmelze mit dem Menschenstrom, mit Diven und Dirnen, Ganoven und Gentlemen, mit Liebenden und Mördern – mit all dem eben, was Menschen tun, wenn sie auf engem Raum zusammenleben.
Nach zahlreichen Erklärungen und manchem Umweg gelange ich schließlich zur Lateranbasilika, in der noch bis ins 19. Jahrhundert hinein die Päpste gekrönt wurden.
Immer schon hatte es mir das Ziel des Franziskuswegs angetan. Ich mag ihre opulente Kraft, die gedrungene Stärke und ihre von Millionen Besuchern verliehene Energie.
Fast schon symbolisch stolpere ich über ein Paar zerschlissene Bergstiefel, die irgendjemand – ein Pilger? – auf den Stufen zum Eingang zurückgelassen hat. Langsam wird es wohl doch Zeit, mir eine Bleibe zu suchen.
Harte Aufstiege, Muskelkatergarantie, zur Belohnung unvergleichliche Stunden in unscheinbaren Dörfern und das große Finale in Rom – das ist der Franziskusweg.
Text: Thomas Bauer
Fotos: © Thomas Bauer